"Als Kind störte mich der Schutt nicht"
Zukunft würdigt Geschichte: Das ist der Leitgedanke des 300-jährigen Jubiläums von St. Clemens. Aber welche Geschichte wird hier geschrieben? Unsere Autorin Martina Stabenow hat in vier Folgen Akzente dieser Vergangenheit gesetzt. Hier noch ein Special: zwei persönliche Geschichten mit St. Clemens . Im zweiten Teil: Elisabeth Diese.
Elisabeth Diese, Jahrgang 1947, geboren und aufgewachsen in Hannover:
Freunde in der Kirchengemeinde
Als ich knapp drei Jahre alt war, bezog meine Familie eine Wohnung im Gebäude der Polizeidirektion in der Hardenbergstraße. Mein Vater nahm dort eine Beschäftigung in der Poststelle auf, die gleichzeitig mit der Hausmeistertätigkeit kombiniert war. Deshalb bekamen wir in dem Polizeigebäude die Hausmeisterwohnung. Allerdings wohnten kaum Kinder in der Nähe. Der Kontakt zu anderen Kindern ergab sich für mich vorwiegend durch die Kirchengemeinde St. Clemens, der wir angehörten.
Gemeinsames Arbeiten
Meine Erinnerungen an St. Clemens beginnen in erster Linie mit der Erstkommunion meines zwei Jahre älteren Bruders im Jahre 1954. Seine Kommunion fand in der damals noch kaputten Oberkirche statt. Doch als Kind störte mich der ganze Schutt überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil: Irgendwie fand ich es toll, wenn die Väter mit ihren großen Söhnen halfen, den Schutt in Karren und Eimern rauszubringen. Mein Vater war gelernter Tischler und wurde besonders dann gebraucht, wenn Holzarbeiten zu erledigen waren. Auch meine Mutter betätigte sich aktiv in der Clemensgemeinde. Sie gehörte der Frauengemeinschaft an, die sich regelmäßig im Pfarrhaus in der Dreyerstraße traf. Dort strickten die Frauen Kleidung und nähten Decken zu Gunsten leprakranker Menschen.
Not machte erfinderisch
Der sonntägliche Gottesdienst fand unten in der Krypta statt. Besondere Feiern, wie Kommunionen und Weihnachtsfeiern, wurden oben in der Kirche ausgerichtet. Obgleich dort die Spuren der Zerstörung noch überall sichtbar waren, konnten wir durch entsprechende Dekoration eine festliche Stimmung erzeugen. Mit Vorhängen und Stoffen verkleideten wir die vielen Gerüste, und den Kirchenraum schmückten wir mit Girlanden aus. Ich entsinne mich gut an die Weihnachtsfeiern, bei denen zudem unglaublich viele Weihnachtsbäume aufstellt wurden. Die Gerüste waren komplett mit Tannen zugestellt. Sie ließen die Kirche wie einen Wald erscheinen. Schöne Erinnerungen habe ich auch an die Krippe, die zur Weihnachtszeit ihren Platz in der Oberkirche fand. Besonders gut gefielen mir die vielen Details, die das ganze Geschehen in Bethlehem nachbildeten.
Jedes Jahr gab es Theater
Einmal im Jahr veranstaltete die Clemensgemeinde ein Fest. Damit verbunden war eine Theateraufführung im Ratsgymnasium. Es durften alle Kinder mitmachen, die bereits ihre Erstkommunion hatten. Der Saal war dann immer rappeldicke voll. Ich wollte zwar nicht auf der Bühne stehen, dafür brachte ich mich kreativ hinter der Bühne ein. Mein Metier war das Schminken, Frisieren und Nähen. Passend zum Stück verkleidete ich die Schauspieler, egal ob es Zwerg Nase oder der Teufel war. Schon Monate vor der Aufführung begannen wir in unserer wöchentlichen Frohscharrunde mit den Vorbereitungen des Bühnenbildes. Jeder, der etwas dazu beisteuern konnte, brachte es mit. Nach den großen Ferien waren unsere Gruppenstunden damit ausgefüllt, dieses Fest vorzubereiten und das Bühnenbild zu gestalten
Kunst in der Krypta
Als die Krypta wiederhergestellt war, kam dort ein toller holzgeschnitzter Kreuzweg rein. Mich beeindruckte vor allem der Christuskopf mit der Dornenkrone. Außerdem wurden neue Bänke aufgestellt und später etwa ein Meter große bemalte Gipsfiguren. In Erinnerung geblieben ist mir auch die Zeit, in der sich Walter Gondolf mit seinen künstlerischen Ideen einbrachte. Gondolf arbeitete als Bühnenbildner im Opernhaus. Einmal gestaltete er die Krippe derart um, dass er sie quasi in die Welt der Nachkriegszeit transportierte. Seinen künstlerischen Schwerpunkt legte er dabei auf die damals vorherrschende Obdachlosigkeit und Armut. Das war schon eine bemerkenswerte Verknüpfung: Jesus umgeben von all den obdachlosen Menschen und der Armut, womit Gondolf aber auch eine geistige Armut ausdrücken wollte.
Essen für Obdachlose
Ab etwa Anfang der 1960er Jahre gab es im Pfarrhaus eine Beköstigung für Obdachlose. Es fing mit belegten Broten an. Jeden Tag wurden mehrere große Brote beim Bäcker bestellt. Eine Küchenangestellte vom Pfarrhaus schnitt die Brote auf und belegte sie. Bestimmte Leute kamen stets zur gleichen Zeit, um die Stullen zu essen. Nach einiger Zeit kochte die Küchenangestellte stattdessen einen Eintopf. In der Diele des Pfarrhauses saßen dann jeden Tag einige Obdachlose, die dort ihre Suppe löffelten. Später wurde unten im Pfarrheim eine Suppenküche eingerichtet.
Martina Stabenow