Das Leben des Martin Karras ist ein Geschenk

Krebs ? für Pfarrer Martin Karras ist die Diagnose zunächst ein Schock. Die Krankheit verändert ihn körperlich und geistlich. Schritt für Schritt kämpft er sich zurück in seinen Alltag.

Karwoche 2015: Pfarrer Martin Karras, damals 48 Jahre alt, geht zum Urologen. Schon seit zwei Wochen hat er ständig Schmerzen im Hoden. Der Urologe erkennt innerhalb von Minuten, dass es sich um einen Tumor handelt. Das muss operiert werden. Wahrscheinlich gutartig. Machen Sie sich einen Termin in der Klinik. Doch nicht in der Karwoche, ist Pfarrer Karras entsetzt und feiert erst noch mit seiner Gemeinde in Burgdorf Ostern. Dann legt er sich unters Messer. Als er in der Klinik wieder aufwacht, ist noch alles dran. Ist ja gut gegangen, begrüßt er den operierenden Arzt freudestrahlend. Der aber schüttelt den Kopf und sagt, es sei Hodenkrebs. Bösartig.

Ein Schock. Krebs kennt Pfarrer Karras bis dahin nur von anderen. Theoretisch. Er hat Angst. Aber er sagt sich auch: Entweder der liebe Gott hat noch was mit mir vor und dann werde ich wieder gesund. Wie lange das auch immer dauern wird. Oder der liebe Gott sagt: Karras, deine Uhr ist abgelaufen. Dann kann ich es auch nicht ändern. Es bringt für mich überhaupt nichts, zu jammern, zu klagen, und mit dem Herrgott zu hadern. Ich bin nicht glücklich, dass er mir diese Krankheit geschickt hat, aber ich bin mir sicher, du hast dir dabei was gedacht, also nehme ich das an.

 

Menschen in Angst und in Einsamkeit

 

Pfarrer Karras hat das Gefühl, dass Gott ihn noch nicht bei sich haben will. Der Arzt sagt: Das Gesund-werden-wollen ist nicht die Garantie, dass man gesund wird. Aber es ist die Voraussetzung dafür. Wir können mit der besten Medizin nicht helfen, wenn die Patienten nicht mitziehen. Das ist wie ein Rollladen, der runter geht. Pfarrer Karras konzentriert sich darauf, Martin Karras zu sein. Ein fröhlicher Mensch mit einer positiven Grundhaltung. Stolzer Halter von Katze Missy und Kater Watson. Motorradfan. Ikonensammler. Ein etwas verrückter Typ, der sich ein Papamobil gekauft hat, um in Burgdorf präsent zu sein.

Martin Karras ist kurz noch einmal zu Hause. Die Patientenverfügung ist geschrieben. Der Neffe ist schon seit Jahren als Testamentsvollstrecker eingesetzt. Der Körper ist schlapp. Die Angst hat ihn befallen. Im Mai fängt Martin Karras mit der Chemotherapie an. Zwei Wochen stationär. Der Arzt macht Mut. Der Krebs sei früh entdeckt worden. Martin Karras fühlt sich oft schwindelig und hat Angst umzukippen. Er traut sich nicht alleine unterwegs zu sein. Er spricht mit vielen anderen Kranken. Mit Schwerkranken und Totkranken. Menschen, die er in Angst erlebt und in Einsamkeit. Die Ärzte und Pfleger wuseln um ihn herum. Er fühlt sich hilflos. Er möchte auch etwas gegen den Krebs tun und versucht sich, immer wieder auf seine positive Grundhaltung zu besinnen.

 

Der Herr Pfarrer als normaler Mensch mit Krankheiten, Unsicherheiten und Ängsten

 

In den kommenden Wochen wird er ambulant weiter bestrahlt. Der Bäcker um die Ecke, keine fünfzehn Meter Fußweg, die schlauchen. Martin Karras braucht eine dreiviertel Stunde für die Strecke. Drei Pausen inklusive. Ich schnaufe wie ein altes Walross, denkt er sich. Er erinnert sich, dass er schon einmal relativ dringlich wegen Gallensteinen operiert worden war. Zuviel Stress, hatte der Arzt damals mit ihm geschimpft. Vielleicht hat er die Warnungen übersehen. Darum hat Gott ihm diesen Tritt in den Hintern verpasst.

Mittlerweile ist es Sommer geworden. Die OP- Narbe ist nicht gut verheilt. Es muss wieder operiert werden. Ein Hoden wird dabei entfernt. Martin Karras hat viel Zeit. Er unternimmt eine Reise, die wegen der Hitze und seiner körperlichen Schwäche zur Tortur wird. Er kommt wieder nach Hause und zur Ruhe. Er denkt nach. Er will lernen, auch mal als Martin Karras in der Stadt ein Bier zu trinken und eine Bratwurst zu essen. Nicht immer der Herr Pfarrer sein. Sondern ein normaler Mensch mit Krankheiten, Unsicherheiten und Ängsten.

 

Die Angst akzepieren, das Leben neu ordnen

 

Karras traut seinem Körper nicht viel zu. Ob es an der Angst liegt? Oder doch daran, dass der Körper ihm gnadenlos Grenzen aufzeigt? Auf einer Reise im November ist er als Konzelebrant bei einer Messe dabei. Alle fünf Minuten muss er sich setzen. Er akzeptiert die Angst. Er akzeptiert die Grenzen. Er findet Kuchen vor seiner Tür. Kleine Karten und Bilder. Wenn die Ängste stärker werden, denkt er an die Gebete und Wünsche, die für ihn gesprochen werden. Die Ärzte raten ihm, sein Leben zu ändern. Zuhause mit seinen Katzen im Lieblingssessel fängt er an, neu zu priorisieren. Das Leben auch mal genießen. Ich sagen ohne schlechtes Gewissen. Wenn du nicht den Mut hast, an dich zu denken und dir selbst was zu gönnen, wie willst du dann dem Anderen etwas gönnen?, stellt er fest. Was er jahrelang anderen gepredigt hat, beginnt er auch sich selbst zuzugestehen: Das Leben des Martin Karras als Geschenk zu begreifen.

Warum ist er eigentlich mal Priester geworden? Wofür ist er angetreten? Im Neuen Jahr 2016 sortiert Martin Karras den Pfarrer Karras neu. Jahrzehntelang war er der Entscheider. Zwanzig Jahre antrainierter Arbeitsstil. Er will lernen loszulassen. Was sich so eingebürgert hat. Und was er an sich herangezogen hat, weil er dachte, er könne das am besten. Er erinnert sich, wie er hustend, schniefend und krächzend am Altar oder Grab stand. An die 70 Stunden in der Woche Arbeit.

 

Kürzer treten? Die Gemeinde glaubt ihm nicht. Er sich selbst auch nicht.

 

Es wird Februar 2016. Pfarrer Karras beginnt mit halber Kraft wieder in den Beruf einzusteigen. Ich gebe den Kirchenvorstand ab, sagt er. Die Gemeinde glaubt ihm nicht. Er sich selbst auch nicht. Er will jetzt nur noch 50 Stunden die Woche arbeiten. Mittagspausen machen. Nur noch drei Tage in der Woche abends Termine. Dafür aber alle Krankenbesuche übernehmen. Sich als Seelsorger interpretieren. Er will seine eigenen Erfahrungen nutzen, weil er Kranke jetzt anders verstehen kann. Die Wochen vergehen. Pfarrer und Gemeinde versuchen sich in die neue Situation einzufinden. Pfarrer Karras gibt den Kirchenvorstand ab. Wenn er Geld investieren will, muss er den neuen Kirchenvorstand darum bitten. Die Gemeinde merkt, dass sie Verantwortung für ihren Pfarrer trägt. Schritt für Schritt setzt Pfarrer Karras seine Ziele in die Wirklichkeit um. Gemeinsam fängt man an zu experimentieren.

Im Sommer 2016 steigt Pfarrer Karras wieder auf sein Motorrad. Er nimmt an Motorradwallfahrten teil. Im Herbst hat er seine Abschlussuntersuchung. Er ist jetzt offiziell krebsfrei. Aber die Krankheit hat Pfarrer Karras verändert. Der Krebs und die Chemo haben die Leistungsfähigkeit des Körpers langfristig beeinträchtigt. Trotzdem kann er sich wieder auf seinem Körper verlassen. Pfarrer Karras? Geist hat das Gefühl der Hilfslosigkeit und Angst erlebt. Er macht als Martin Campingurlaub, genießt die Freiheit und seinen Feierabend. Was seine Aufgaben hier auf Erden sind als Mensch und als Priester hat er überdacht. Die Grenzen seines Körpers hat er gelernt anzunehmen. Die Grenzen, die ich mir selbst aber in meinem Geist gesetzt habe, sind unnötig.

Marie Kleine