"Die Gesellschaft ist sensibler geworden"
Inobhutnahmen und die Kinder- und Jugendhilfe
Weiterhin gibt es eine hohe Anzahl an "Inobhutnahmen" von Kindern und Jugendlichen durch die Jugendämter. Wie ist das zu bewerten? Nachfragen an Petra Hesse, Leiterin der Kinder- und Jugendhilfe St. Joseph in Hannover.
Statistisch wird ein Rückgang der Inobhutnahmen vermeldet, begründet allerdings durch den Rückgang bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen. Ist also der Trend zu mehr Inobhutnahmen aus sozialen Gründen ungebrochen?
Es gibt durchaus durchgehend eine große Anzahl von Inobhutnahmen. Wir selbst können maximal zwei Kinder pro Gruppe im Obhut nehmen. Die Anfragen vom Jugendamt, Kinder in Obhut zu nehme, kommen stetig. Der Trend ist unserer Einschätzung nach tatsächlich weiter ungebrochen.
Mit 38 Prozent wurden die meisten Schutzmaßnahmen wegen Überforderung eines oder beider Elternteile getroffen. Schauen Jugendämter genauer hin als früher?
Die Jugendämter haben immer schon genau hingeschaut – wenn sie denn entsprechende Informationen hatten. Es hat sich etwas anderes verändert: Nachbarn sind sensibler geworden, Kindergärten und Schulen sind per Gesetz angehalten bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung aktiv zu werden, zwischen Ärzten und Jugendamt gibt es eine verbindliche Kooperation im Hinblick auf Kindeswohlgefährdung. So gelangen mehr Hinweise an das Jugendamt. Zum Beispiel, dass die Eltern nie zu Hause sind oder die Kinder schreien. Oder Nachbarn berichten, was sie unter Umständen von den Kindern selbst gehört haben. Dann kann das Jugendamt aus Sorgfalt tätig werden. Nicht zuletzt ist die Bevölkerung durch verschiedene Skandale um Missbrauch oder Vernachlässigung wach geworden. Die Haltung ‚Das geht mich nichts an‘ hat abgenommen.
Wenn von Überforderung oder Anzeichen von Vernachlässigung gesprochen wird: Was muss man sich darunter vorstellen?
Da fällt zuerst der Blick auf die Kinder: Sie verändern sich. Sie werden stiller, ziehen sich zurück oder werden aggressiver. Die Eltern dagegen sind nicht ansprechbar, reagieren nicht auf Anfragen. Anzeichen können auch Kleinigkeiten sein. Die Kinder sind nicht mehr dem Wetter angemessen angezogen oder haben ständig Hunger. Meistens hat sich bei Vernachlässigung die Familiensituation verändert. Das kann viele Gründe haben: Suchtprobleme wie Drogen oder Alkohol, psychische Belastungen oder Schwierigkeiten in der Partnerschaft. Wenn die Eltern sich trennen, leiden die Kinder. Jugendliche wenden sich auch selbst an das Jugendamt und sagen, dass etwas nicht stimmt.
Werden Sie auch hier in St. Joseph angerufen?
Ja, das kommt vor. Wir werden durchaus aus der Nachbarschaft angerufen, informiert, was vorgefallen ist und gefragt, ob wir etwas tun können. Selten kommen auch direkt Jugendliche und klingeln. Wir verweisen dann an das Jugendamt und das Jugendamt unternimmt dann die notwendigen Schritte. Das ist auch gut so.
Wie nehmen Sie in St. Joseph Kinder in Obhut?
Die Anfrage kommt immer durch das Jugendamt. Wir haben verschiedene Gruppen: Für Mädchen, für Jungs, für Jüngere, für Ältere, für Jugendliche, die gerade in der Verselbständigung sind. Faktisch haben wir zehn Plätze für eine Inobhutnahme, verteilt auf fünf Gruppen. Wenn die Plätze in einer Gruppe bereits besetzt sind, können wir natürlich niemanden aufnehmen.
Was heißt in Inobhutnahme genau?
Inobhutnahme bedeutet die Unterbringung des Kindes zu seinem Schutz in einer akuten Gefährdungssituation. Das ist der Grundsatz. Je nach Situation, wissen die Eltern, wo ihre Kinder untergebracht sind. Oder sie wissen es nicht. Dann gibt es aber gute Gründe dafür, Kinder so zu schützen. Was folgt ist die eigentliche Arbeit. Die Situation muss vom Jugendamt analysiert werden, durch Gespräche mit den Kindern, den Eltern, dem Umfeld. Und auch mit Ärzten.
Das macht das Jugendamt?
Ja, das ist Aufgabe der Behörde. Wir unterstützen das Jugendamt dabei, wenn wir den Auftrag dazu erhalten. Das ist je nach Situation unterschiedlich. Wir sprechen viel mit den Kindern, wir beobachten, wir kümmern uns – und geben unsere Erfahrungen weiter. Unser Hauptanliegen ist, dass es den Kindern besser geht, dass sie ein gutes Umfeld haben. Doch welche Entscheidungen für den weiteren Verlauf getroffen werden, liegt beim Jugendamt.
Welche Entscheidungen können das sein?
Das ist ganz unterschiedlich. Es kann sein, dass Kinder und Eltern schnell wieder zusammenkommen, weil ein eskalierter Konflikt gut beigelegt wird. Dann sind die Kinder vielleicht nur drei oder vier Tage bei uns. Die andere Möglichkeit ist, dass Eltern gezielt Hilfe bekommen und die Kinder so lange bei uns bleiben, bis es für die Familie wieder eine gemeinsame Perspektive gibt – auch mit weiteren unterstützenden Maßnahmen. Und es gibt die Fälle, in denen sich Eltern und Jugendamt nicht einig werden. Dann wird das Familiengericht eingeschaltet und bis zur Klärung erfolgt die stationäre Aufnahme.
Solche Fälle kennen Sie auch in St. Joseph?
Natürlich. Das sind Situationen, in denen Eltern völlig überfordert sind. Trennungen spielen da häufig eine Rolle. Aber in dem Moment, in dem ein Kind bei uns aufgenommen wird, beginnt die Elternarbeit. Für jeden Einzelfall wird ein Konzept entwickelt. Manchmal ist es gut, wenn Eltern und Kinder strikt getrennt werden, manchmal bahnen wir schon früh wieder Kontakt an. Wie gesagt: Das ist in jedem Einzelfall anders.
Übernehmen Sie dann die Rolle der Eltern?
Wir sind kein Elternersatz. Wir begleiten Kinder, wir kümmern uns um sie, aber wir können und wollen keine Elternrolle einnehmen. Deshalb ist unser Ansatz, dass es wieder zu einem Kontakt zu den Eltern kommt. Aber auch das sieht in jedem Einzelfall wieder unterschiedlich aus. Manche Kinder und Jugendliche gehen nach einem langen Prozess wieder nach Hause. Andere wechseln in unsere Verselbständigungsgruppe, beenden die Schule, machen eine Ausbildung, finden eine Wohnung oder Wohngemeinschaft – haben aber irgendwie wieder einen Draht zu ihren Eltern aufgebaut. Das ist ein bisschen idealtypisch, aber darauf möchten wir mit Kindern und Jugendlichen hinarbeiten.
Hinweis: Die Kinder- und Jugendhilfe St. Joseph in Hannover-Döhren. gehört zur Stiftung Katholische Kinder- und Jugendhilfe im Bistum Hildesheim.
Fragen: Rüdiger Wala