Mit dem Hungertuch auf Wallfahrt
Jedes Jahr bündelt das katholische Hilfswerk Misereor seine Aktionen zur Fastenzeit, um auf ein spezielles Problem aufmerksam zu machen, das den ärmsten Menschen auf unserer Welt das Leben schwer macht. Dieses Jahr lautet das Thema Klimawandel.
Mit dabei bei der Misereor- Fastenaktion ist auch immer eine kleine Gruppe von Wallfahrern: Sie tragen das traditionelle Hungertuch, das Misereor jede Fastenzeit neu herausgibt, vom alten Eröffnungsort der Fastenaktion zum neuen Ort. Diesmal ging es von Berlin nach Osnabrück - zu Fuß! Auch in Hannover kamen die Wallfahrer vorbei. Ein Erfahrungsbericht.
Die Sonne geht unter über den Feldern rund um das kleine Nest Gümmer, zwanzig Kilometer westlich von Hannover. Es ist kein spektakulärer Sonnenuntergang, der den Himmel in knallige orange- rote oder violette Farben tränkt. Es ist ein stinknormaler, grau in grau Sonnenuntergang im Februar. Die Luft ist klar, die Temperaturen moderat und der Tag war sonnig doch als die Nacht langsam hereinbricht, vergisst der Tag, dass er mal schön war.
Bis auf die Autos, die unermüdlich auf der Kreisstraße 356 durch den Zweitausend- Seelen- Ort brausen, sind die Straßen wie ausgestorben. Gümmer ist nicht die Art von Ort, über die man beim Kaffeekränzchen ob der Sehenswürdigkeiten spricht. Doch da taucht plötzlich eine circa zehnköpfige Fußgängergruppe am Ortseingang auf: Gelbe und orange Warnwesten, Mützen und Käppis, Handschuhe, Wanderschuhe, einige mit Stirnlampen auf dem Kopf. Sie tragen ein riesiges Tuch vor sich her. Es ist an zwei langen Stäben befestigt. Die Autofahrer gucken verdutzt in die Rückspiegel: Was ist denn da los? Ein seltsames Wandertrüppchen wohl, fernab aller Wanderwege.
Die beiden Tuchträger, Peter Koch und Hermann Roling, stapfen unbeirrt weiter. Sie beißen die Zähne zusammen. Die Knie schmerzen, das Becken tut weh, der Wind drückt das Gewicht des Tuches immer wieder unsanft in ihre Schultern. Die Füße sind wund gelaufen. Koch und Roling müssen an den Stäben ständig umgreifen, um das Tuch nicht an den Wind zu verlieren. Seit drei Tagen ist die Gruppe unterwegs. Koch und Roling laufen stumm nebeneinander, immer der Straße entlang. Sie sagen nichts. Und sagen doch viel. Sie sind mit dem Hungertuch von Misereor auf Wallfahrt.
Willi Kraning trottet stoisch Schritt für Schritt hinter ihnen her. Er weiß, dass heute eigentlich Donnerstag ist. Aber für ihn ist Freitag. Kraning ist 83 Jahre alt, pensionierter Priester, seit vielen Jahren aufs Pilgern spezialisiert. Er hat darüber sogar ein Buch geschrieben. Er ist geübt, und jetzt das: Sein Organismus fährt Achterbahn. Schlafen, Essen, Laufen, Gespräche führen alles läuft bei der Hungertuchwallfahrt rotierend in vier Gruppen ab. Das Tuch bleibt nie stehen auf seinem Weg von Berlin nach Osnabrück von dem Ort, an dem die Fastenwoche von Misereor zuletzt eröffnet wurde, zu dem Ort, an dem sie dieses Jahr eröffnet wird. Schon zweimal war die Gruppe, zu der die drei Männer gehören, nachts unterwegs. Immer eine Strecke von rund zwanzig Kilometern. Das führt dich und deinen Körper an die Grenzen, sagt Matthias Hey. Er läuft ganz hinten, sichert als Chef die Gruppe ab, sieht nach dem Verkehr. Er diszipliniert auch schon mal, wenn jemand unachtsam auf die Straße tritt. Wenn wir von der Hungertuchwallfahrt auf unserem Weg erzählen, in Schulen oder Gemeinden, hört sich das alles ganz schick an. Wir tragen das Tuch zu Fuß nach Osnabrück. Und dabei informieren wir die Leute über die Arbeit von Misereor und warum Klimaschutz und die Hilfe für Menschen in anderen Ländern wichtig ist. Aber die Erfahrungen, die du dann wirklich bei der Wallfahrt machst, das ist etwas ganz anderes. Etwas, was du nicht so leicht in Worte fassen kannst.
Noch zehn Kilometer liegen vor ihnen bis nach Wunstorf. Dort werden sie das Hungertuch gegen zehn Uhr an die nächste Gruppe übergeben. Die Gemeinde St. Bonifatius versorgt sie dann mit Essen, sie können im Gemeindesaal schlafen, ihre Wunden lecken. Mittags waren sie am Landtag in Hannover gestartet, großer Empfang bei Landtagspräsident Bernd Busemann mit Medienrummel. Doch das hätte genauso gut gestern oder vorgestern sein können. So fern erscheint es jetzt in diesem Moment. Es ist mittlerweile stockdunkel. Die Gruppe überquert die A2 und läuft auf einer einsamen kleinen Straße Richtung Luthe. Elisa Neufeld und Johanna Schwaab gehen auch mit. Sie sind neunzehn und achtzehn Jahre alt. Seit heute Morgen sind sie die Küken der Gruppe. Denn am Morgen musste die sechszehnjährige Pia in einen Zug nach Hause gesetzt werden. Fieber, vielleicht die Grippe. Krankheitsbedingten Schwund gibt es bei jeder Wallfahrt. Jetzt erzählen Elisa und Johanna kleine Horrorgeschichten ihre Lieblingsserien, was darin für besonders ekelige Szenen vorkommen und so. Christiana Schwarzer hört amüsiert zu. Die 54- Jährige passt ein bisschen auf die beiden auf nur so viel, dass die Mädels es nicht mitbekommen. Johanna und Elisa machen der Gruppe Tempo, aber auch ihre Füße sind blutig und vor allem das Becken schmerzt Elisa. Doch sie will ein Zeichen der Solidarität setzen, für die Menschen in den Ländern, in denen Misereor sich engagiert. Das Hungertuch fällt auf.
Ein alter, violetter Kombi hält klappernd bei einer Kreuzung vor der Gruppe. Was?n das?, fragt der Fahrer mit großen Augen. Was macht?n da? Ne Wallfahrt, entgegen Udo Stöckel von ganz vorne. Er ist zusammen mit Matthias Hey für die Leitung der Gruppe da. Er hat die Karte und ist zuständig dafür, dass die Gruppe nicht im Kreis läuft. Im eigentlichen Leben ist Stöckel IT- Leiter. Er hat sich Urlaub genommen für die Wallfahrt. Wie fast alle Erwachsenen, die dabei sind. Ach so, brummt der Klapper- Kombi- Fahrer, als ob damit alles klar sei, und braust davon. So Leute, wir machen jetzt die klassische Bulli- Formation, sagt Stöckel an. Auf dem Streckenabschnitt vor ihnen gibt es keinen Fußweg. Für solche Situationen, und um Kranke, Verletzte und das Gepäck transportieren zu können, begleiten immer zwei Bullis jede Gruppe. Heute fahren Heribert Spiegel und Julia Zwenke die Bullis. Spiegel kommt aus Neustadt an der Weinstraße. Er hat die Mädels Elisa und Johanna in der Familiengruppe seiner Gemeinde für die Wallfahrt gewinnen können. Im seinem richtigen Leben ist er in der Stadtverwaltung für die berprüfung von Baustellen zuständig. Ein verantwortungsvoller Job. Jetzt kann er für die Zeit der Wallfahrt die Verantwortung abgeben und sich auf die Sache konzentrieren. Einfach auf die oberste Heeresleitung hören, wie die norddeutsche, zweifache Mutter Zwenke scherzhaft über Hey und Stöckel sagt. Sie will sich dieses Jahr nicht unter Druck setzen, lieber mehr Bulli fahren und kleine Strecken laufen. Wie die meisten anderen Wallfahrer ist sie schon oft mit dem Hungertuch unterwegs gewesen.
Es ist nicht mehr weit bis nach Wunstorf. Die Luft ist immer noch klar, die Temperaturen beginnen zu fallen. Am Himmel leuchten zahllose Sterne. Wie weit es noch ist, fragt keiner. Die Gruppe wechselt die Tuchträger. Jeder ist mal dran. Matthias Hey weiß, dass die Wallfahrt dieses Jahr mit der Betonstrecke, wie er sie nennt, sehr herausfordernd für die Teilnehmer ist. Manchmal nehmen wir auch bewusst einen kleinen Umweg und gehen mal eine Strecke im Wald, sagt er. Damit man fühlt und erlebt, wie schön das sein kann. Aber wir müssen im Endeffekt vor allen Dingen schnell vorankommen. Viele andere Erfahrungen nähmen die Wallfahrer dabei en passant auf: Wieviel Müll im Straßengraben liege. Mit welcher Gastfreundschaft die Gruppe in den Gemeinden empfangen werde. Wie ähnlich die Probleme der Gemeinden auf ihrem Weg seien zu den Problemen der eigenen, zum Teil weit entfernten Heimatgemeinde.
Die Gruppe kommt überpünktlich am Pfarrheim in Wunstorf an. Es ist noch keiner da, um sie zu empfangen. Hey und Stöckel telefonieren. Der Gemeindereferent eilt herbei und lässt sie rein. Ein Tisch ist schon für die Wallfahrer gedeckt. Reichlich bedröppelt setzen sie sich, trinken Wasser und knappern am Gebäck. Dann kommt ein Journalist vom Wunstdorfer Stadtanzeiger. Geduldig erklärt Hey, was es mit der Wallfahrt auf sich hat. Gruppenfoto hier, Händeschütteln da. Schließlich richten sich die Wallfahrer im Untergeschoss ihr Nachtlager ein. Luftmatratzen, Schlafsäcke, ein Zimmer für die Schnarcher, eins für die Nicht- Schnarcher. Gleich Morgen geht es weiter für sie, auch wenn alle Glieder schmerzen. Was sie heute erlebt haben, werden sie dann wahrscheinlich schon nicht mehr genau in Zeit und Raum einordnen können. Erst wenn sie an ihrem Ziel in Osnabrück angekommen sind, werden die Wallfahrer wieder zur Ruhe kommen.
Marie Kleine