Namen an der Wand, Kerzen auf dem Pflaster
Gedenkgottesdienst für Verstorbene aus der Wohnungslosenszene
Der Buß- und Bettag ist Anlass an die zu erinnern, an die im Leben und im Sterben kaum gedacht wurde: Die Kirchen haben zusammen mit Diakonie und Caritas einen Gedenkgottesdienst für Verstorbene der Wohnungshilfe gefeiert – auf dem Raschplatz am Hannoverschen Hauptbahnhof.
„Ohne Arbeit, ohne Geld, so vergisst dich schnell die Welt, / mit Alkohol versuchst du zu vergessen, / doch die Probleme werden mehr, irgendwann kannst du nicht mehr, / du glaubst für dich da gibt es kein Halleluja.“ Es ist ein trauriges „Lobet Gott“ (= Halleluja), das das „ChorWerk Hannover“ angestimmt hat. Seine Mitglieder sind (ehemals) wohnungslose oder von Armut betroffene Menschen. Sie singen das, was sie erlebt erleben – und es ist eindringlich bei der Trauerfeier für anonym Bestattete, Verstorbene ohne Angehörige und aus der Wohnungslosenszene für dem Kontaktladen Mecki am Raschplatz.
Ein zugiger Platz, laut ist es auch – über die Köpfe donnern die Autos auf der Hochstraße, während der Chor singt. Besinnlich ist anders. Aber zwei Feuerkörbe spenden Wärme, aus Stoffbahnen ist auf dem Pflaster ein Kreuz gelegt. Darauf stehen brennen Kerzen. An der Wand eine Liste mit 70 Namen – Verstorbene, die auf der Straße gelebt haben und „von Amts wegen“ bestattet wurden: Ohne Namen, ohne Geleit, ohne Verzeichnis, wo ihr Grab liegt. Kein Ort der Erinnerung.
„Wir möchten diesen Menschen ihren Namen zurückgeben und die Erinnerung an sie in Gottes Hand legen“, sagt Propst Christian Wirz, der zusammen mit dem evangelischen Stadtsuperintendent Rainer Müller-Brandes die ökumenische Andacht feiert. Die Liste an der Wand ist unvollständig, wie sich zeigt. Drei Mitfeiernde treten nach vorne, schreiben jeweils noch einen Namen dazu. Im Vergleich zum Vorjahr sind doppelt so viele Menschen ohne Wohnsitz gestorben.
"Jeder Mensch hat die gleiche Würde – auch auf der Straße.“
In einer kurzen Ansprache greift Müller-Brandes das traurige Halleluja auf, das über den Raschplatz hallte: „Wir vertrauen darauf, dass es den Verstorbenen jetzt gut geht, dass sie nicht überlegen müssen, wo sie Kleidung herbekommen, sich aufwärmen können oder schlafen.“ Auch für Propst Wirz geht es um Würde – im Sterben wie im Leben: „Jeder Mensch hat die gleiche Würde – auch auf der Straße.“
Doch auf der Straße verrinnt die Würde wie die Lebensjahre. Viele Verstorben sind zwischen 50 und 60 Jahre alte, manche unter 40, nur wenige über 60. Immer noch unter dem gesellschaftlichen Durchschnitt. Oder das Alter bleibt einfach unbekannt.
Obdachlosigkeit macht einsam, führt dazu, sich zu verstecken. Doch das dürfe nicht zum vollständigen Vergessen führen. Daher der Gottesdienst: "Wir möchten damit zum Ausdruck bringen, dass Menschen vor Gott und in unseren Herzen unvergessen sind. Sie haben einen Namen", unterstreicht Wirz. Und dieser Name soll ihnen dort wieder gegeben werden, wo es einen Ort für sie gibt. Dieses Jahr vor dem Diakonie-Kontaktladen Mecki am Raschplatz, im kommenden Jahr vor dem Tagestreffpunkt der Caritas nahe der Basilika St. Clemens in der Calenberger Neustadt.
„Hier trauern zu können, ist ganz wichtig“, sagt Sabine. Sie ist mit ihrer Freundin Heike gekommen, die ihren Mann verloren hat. Peter wurde bei einer Auseinandersetzung getötet, erschlagen mit einem Stein. Beide haben ein Grablicht mitgebracht. Darauf ist ein Bild von Peter geklebt. Heike hat es auf das Tuchkreuz gestellt, dazu eine rote Rose gelegt. In ihre Trauer mischt sich immer wieder Zorn über die Täter. Irgendwo müssen diese Gefühle hin.
"Dann komm und sing mit uns dein Halleluja"
Jahr für Jahr werden in der Stadt Hannover durchschnittlich um die 350 Menschen anonym und von Amts wegen bestattet. Ohne einen Ort, an denen Freunde und Bekannte ihrer Trauer und Erinnerung Ausdruck geben könnten. Daher setzen sich die Kirchen dafür ein, einen Ort des Gedenkens einzurichten – wie beispielwiese eine Stele auf einem zentralen Friedhof.
Erinnern und Gedenken ist auch in der Krypta der Basilika St. Clemens möglich, die als Ort der Trauer und der Hoffnung mitten in der Stadt gestaltet wurde. In dieser Unterkirche liegt das Buch der unvergessenen Toten aus, in das die Namen derer, die eben nicht vergessen werden sollen, eingetragen werden können. Von dort aus werden sie in ein Endlosvideo übertragen, das über einen Monitor ausgestrahlt wird, der auf eine Grabplatte montiert ist.
Es geht um Würde und Erinnerung. Oder, wie es das Chorwerk singt: "Wir wollen dich nicht im Abseits seh‘n, du brauchst nur durch die Tür zu gehen, / nimm von deiner Welt doch mal ne Pause. / Die Seele ruht beim Singen aus, das ist das, was du gerade brauchst, / dann komm und sing mit uns dein Halleluja!“
Rüdiger Wala