Noch einmal, mit pathos grave

Jede Woche Chorprobe? Für viele Musikliebhaber ist das ein Zuviel an Verpflichtung. Auf diesen Trend hat die Kirchenmusik im Bistum Hildesheim reagiert: Projektchöre können ihnen eine vorübergehende musikalische Heimat geben.

Es ist kalt an diesem Samstagmorgen in der Kirche St. Joseph in Hannover. Engelhaft schwingen sich die Sopranstimmen des Projektchors St. Joseph in die Höhe der neugotischen Kirche. Uuuu und Mmmmm erklingt es, höher, immer höher. Rund 30 Frauen in Funktionsjacken und Wintermänteln lassen die Kirche an dem tristen und verregneten Tag in stimmlichen Klang erleuchten. Einige Frauen sitzen, andere stehen. Für mehr Aktivität im Unterleib, hat Silvia Bleimund vorne am Klavier erklärt. Ja, so akzeptiere ich das. Das klingt schön. Keiner grätscht mehr raus, sagt die ausgebildete Sopranistin und Solistin nach zehn Minuten voller Stimmübungen auf Uuuu, Mmmm und Brrrr.

Christine Mosler, 56 Jahre alt, zückt in der letzten Chorreihe ihr Notenheft. Es geht an die schwierigen Passagen in den Stücken Te Deum und Jubilate von Georg Friedrich Händel im englischen Original. Sie hat das Notenheft besorgt, für alle 90 Mitglieder des Chors. Ebenfalls in ihrer Kirchenbank greift ihre zwei Jahre jüngere Schwester Carola zum Heft. Die beiden Schwestern sind heute zusammen von der kleinen Ortschaft Bennigsen bei Springen bis in die Landeshauptstadt gefahren, wo sich die Stadtteile List und Vahrenwalde treffen. In unserer Gemeinde vor Ort wurde der Chor aus Nachwuchsmangel leider aufgelöst, erklärt Christine Mosler. Für die Musikliebhaberin ein herber Rückschlag, denn sie wollte unbedingt weiter Kirchenmusik machen. Schon als Kind hat uns meine Mutter mit der Gitarre vorgesungen. Ich bin in Bennigsen mit Kirchenmusik groß geworden. Musik bedeutet für mich Seelenbalsam, mentaler Ausgleich.

 

Stolz bei den Auftritten

Kurz nachdem die wöchentliche Chorprobe und die Auftritte in der Heimat wegfielen, gründete sich der Projektchor St. Joseph unter der Leitung von Werner Nienhaus. Den kannte Mosler noch aus Bennigsen und fand die Idee gleich klasse: Ein musikalisches Projekt pro Jahre, jeden Monat eine Probe an Freitagabenden oder Samstagen. Dazwischen Hausaufgaben und intensives Selbststudium der musikalischen Stücke zuhause, privat in kleinen Gruppen und per Video auf der Online- Plattform YouTube. Keine Verpflichtung, auch beim nächsten Projekt dabei zu sein. Die vollberufstätige Stationsleiterin und Kinderkrankenschwester stieg nicht nur als Mitglied im Chor ein, sondern übernahm auch noch gleich das Management des Chors. Auch wenn es beruflich eng wird, schaffe ich das noch, sagt Mosler und lächelt. Sie schreibt Mails, telefoniert, checkt Listen. Der Stolz bei den Auftritten ein tolles Werk in hoher Qualität abzuliefern und die Freude beim Singen sei ihr das wert.

Mittlerweile ist es fast schon Mittag. Im Forum St. Joseph übt Chorleiter Werner Nienhaus mit den mehr als fünfzig anderen Sängern des Chors. Alt, Tenor und Bass, alles will unter einen Hut gebracht werden. Hmmm, der Einstieg hier mit dem Alt und Tenor, das ist schon heikel, macht Nienhaus seine Schützlinge auf eine schwierige Stelle in den Stücken aufmerksam. Aber begabt wie wir sind, kriegen wir das gleich hin, sagt er augenzwinkernd. Kurz vor der 15- minütigen Pause, die die Gruppe bei jeder vierstündigen Probe zwischendurch einlegt, kommt der Chor in Gänze zusammen. Immer wieder proben sie ein kurzes Stück aus Händels Te Deum: Now it is open the kingdom of heaven. Das klingt mir zu gestresst. Da müssen wir noch einmal ran, mit pathos grave, fordert Nienhaus. Was einzeln ein Bächlein ist, ergibt zusammen eine Flut an Noten.

 

Zukunftskonzept Projektchor?

50 Euro bezahlt jedes Chormitglied pro Projekt. Chorleiter, Solistin, Orchester und Noten werden durch den Beitrag und die Einnahmen bei den Konzerten finanziert. Manchmal hilft ihnen auch die Gemeinde aus. Vierzig Prozent des Chors sind feste Mitglieder, die immer wieder mitmachen. Die haben dann auch oft nicht nur einen Chor, in dem sie singen. Das sind richtige Chorfans, sagt Chorleiter Nienhaus. Aber die übrigen sechzig Prozent der Mitglieder seien Hobby- Musiker, die keine Zeit haben, um eine wöchentliche Verpflichtung einzugehen. Gerade wenn wir dann bestimmte Stücke anbieten, ist das Interesse da. Voraussetzung ist bei so viel Fluktuation und Selbststudium eine musikalische Vorbildung.

Die ist bei Christine Mosler zweifelsohne gegeben. In der Pause organisiert sie schon mal den Kartenvorverkauf für das nächste Konzert des Chors. Die übrigen Chormitglieder quatschen miteinander und essen schnell etwas. Hier sind schon richtige Freundschaften entstanden, sagt Mosler. Es gebe auch viele Fahrgemeinschaften, die sich zusammen als Gruppe zum Projektchor anmelden und von weiter weg kommen. Regelmäßige Teilnahme an den Proben ist absolute Teilnahmevoraussetzung beim Projektchor. Bisher hat das auch immer gut geklappt. Aber ich sehe schon, dass auch unser Chor im Durchschnitt deutlich über 40 Jahre alt ist, überlegt Mosler. Sicherlich sei der Projektchor eine gute Alternative für alle, die es wöchentlich nicht zu Proben schafften. Ob er allerdings ein Zukunftskonzept ist, ist sich Mosler nicht sicher. Ich habe eher den Eindruck, dass viele jüngere Musikliebhaber lieber Jazz- und Popmusik singen möchten und nicht klassische Musik. Und was ich in den vergangenen Jahren beobachtet habe: Wer sich für klassische Musik und Kirchenmusik interessiert, der lernt lieber ein Instrument. Und das ist ja auch eine gute Sache.

 

 

Der Projektchor St. Joseph wird am Sonntag, 20. November 2016, um 17 Uhr in der Kirche St. Joseph (Isernhagener Straße 64, Hannover) auftreten. Begleitet wird der Projektchor von einem sich spontan bildenden Kammerorchester. Der Eintritt kostet 15,- Euro, für Schüler und Studenten 7,- Euro. Karten können vorab schon im Pfarrbüro gekauft werden.

Marie Kleine