Seelsorge unter Baukränen
Ein neuer Stadtteil – ohne Kirche, aber trotzdem mit ihr
Es ist das größte Neubauprojekt Niedersachsens: Gut 4000 Wohnungen für etwa 8500 Menschen entstehen derzeit am Rande von Hannover. Faktisch ein komplett neuer Stadtteil, mit Kitas, einer Schule, zahlreichen Einkaufsmöglichkeiten, aber ohne Gotteshaus. Trotzdem ist die Kirche präsent – mit Sr. Magdalena Winghofer. Und das von Anfang an.
Kronsrode nennt sich das neue Wohngebiet, der seit Frühjahr 2021, auf gut einer halben Million Quadratmetern an der Grenze zu Laatzen und in Spuckweite zum Expo-Gelände hochgezogen wird. Drei Bauabschnitte sind vorgesehen: Nord, dort sind im Herbst letzten Jahres die ersten Mieter*innen eingezogen. Mitte, wo kräftig gebaut wird. Und Süd. Da haben die Stadt Hannover und Wohnungsunternehmen gerade das Startsignal für die Arbeiten gegeben. Die Architekturwettbewerbe sind abgeschlossen.
Sr. Magdalena beobachtet das unter den Baukränen aus der Graswurzelperspektive. Gleichzeitig mit den ersten Mieter*innen hat die Ordensfrau der Congregatio Jesu durch Bischof Heiner Wilmer einen Auftrag erhalten: „Mitgestaltung der Pastoral in neu entstehenden Wohngebieten in Hannover“. Das meint neben dem Wohngebiet Kronsrode auch die Wasserstadt Limmer. Dort sollen in Hannover auf einer Industriebrache in drei Bauabschnitten 1800 Wohnungen entstehen. Ein erster Bauabschnitt ist wohl im kommenden Jahr fertiggestellt, der zweite wird gerade geplant und mit dem dritten soll das Projekt bis 2030 abgeschlossen sein.
Neugier auf Baukräne und Hausriegel
Doch jetzt die Riesenbaustelle Kronsrode. Sr. Magdalena ist auf Spaziergang durch fertige Hochhäuser, angelegte Baustraßen und Rohbauten und den letzten Wiesen. Nicht allein wie sonst, um Kontakte zu knüpfen, sondern mit einer Gruppe aus dem benachbarten Laatzen. Den „Best-Agern“, frisch in der Pfarrei St. Oliver gegründet. „Von uns aus sieht man Kronsrode immer wachsen“, sagen die Simone und Jürgen Volkwein, die die Gruppe ins Leben gerufen haben. Ihr Ziel: Mit Menschen, deren Kinder aus dem Haus sind und sich noch zu jung für den Senior*innenkreis fühlen, einmal im Monat etwas zu unternehmen: „Vor allem etwas, was Spaß macht.“ Oder, was Neugierde weckt. Wie die Baukräne und Hochhausriegel in der Nachbarschaft.
Sr. Magdalena lenkt den Blick auf das Große und Ganze dieser quasi Kleinstadt, die auf ehemals bewirtschafteten Felder entsteht. Zum Beispiel auf die drei Quartiere, die mit jeweils einem zentralen Platz mit Cafés und kleinen Geschäften durch Grüngürtel und Parkanlagen verbunden werden sollen. Oder auf die großen Einkaufsmöglichkeiten an der Endhaltestelle der Straßenbahn. Oder auf die Bauweise der mehrstöckigen Gebäude als Carré mit Innenhöfen. Auf die unterschiedlichen beteiligten Wohnungsbaugesellschaften und Bauträger. So sieht vieles ähnlich aus. Aber nicht identisch. Hauseingänge, Innenhöfe, kleine Gärten oder auch die Anlagen wie Müll und Wertstoffe entsorgt werden – grundlegende Dinge, die je nach Wohnungsbaugesellschaft anders gestaltet sind.
Aber Sr. Magdalena rückt auch die kleinen Dinge in den Mittelpunkt. Zum Beispiel, dass Cafés zwar geplant sind, doch es bisher ausschließlich einen Stadtteilkiosk, der von den hannoverschen Werkstätten betrieben wird. „Im gleichen Gebäude sind auch inklusive Wohngemeinschaften zu Hause“, berichtet Sr. Magdalena. Dort leben Menschen mit Behinderung und arbeiten im Stadtteilkiosk – mit entsprechender Unterstützung.
Straßennamen als Anker fürs Gemeinwesen
Sr. Magdalena verweist auf die Straßen- und Platznamen. Sie sind nach Frauen benannt. Eine Straße nach Rosalind Franklin: Die Britin, 1920 geboren und früh 1958 an Krebs verstorben, hat wesentlich Forschungsarbeiten geleistet, um die Struktur der DNA zu entschlüsseln, die die Erbinformationen von Lebewesen in sich trägt. Ein Platz ist nach Käthe Paulus (1868-1935) benannt, der ersten deutschen Fallschirmspringerin und Erfinderin des zusammenlegbaren Fallschirms. Ein anderer trägt den Namen von Iris Runge (1888-1966), gebürtige Hannoveranerin und Mathematikerin: „Sie hat sich mit Leuchtmitteln beschäftigt“, berichtet Sr. Magdalena weiter: „Doch diese Forschung ist wirklich kompliziert.“ Reaktion der Gruppe aus Laatzen: „Spannend. Haben wir nicht gewusst.“
Die Straßennamen haben für Sr. Magdalena eine besondere Bewandtnis. Denn sie nutzt sie für ihre Aufgabe, die „Mitgestaltung der Pastoral in neu entstehenden Wohngebieten in Hannover“. Sie bietet zusammen mit ihrem Kollegen von der evangelischen Kirche, Straßenführungen an. Da geht es natürlich nicht nur um die Namen und die Geschichten, sondern auch um das Schaffen von Begegnungsmöglichkeiten. „Was wollen wir als Kirche denn hier?“, fragt die Ordensfrau: „Wir wollen, dass ein gutes Gemeinwesen entsteht.“ Das heißt auch Gelegenheiten zu schaffen, dass Menschen sich in dieser Mischung aus bereits Wohnquartier und noch lange Zeit Baustelle treffen können. Von allein gehen sie meist nicht auf die Straße: „Also laden wir ein, um die Leute ein wenig zu verkuppeln“, sagt Sr. Magdalena.
Erste soziale Akteurin vor Ort
Dabei werde durchaus wahrgenommen, dass die Kirche als erste soziale Akteurin vor Ort ist. „Die Menschen schätzen das“, ist der Eindruck der Ordensfrau, die an ihrem Schleier gut erkennbar ist, wenn sie durch die Straßen geht. So kann sie Netzwerke und Kontakte schaffen. Auch und gerade bei Hausbesuchen.
„Ich bekomme ja die Daten der zugezogenen Katholikinnen und Katholiken“, erläutert Sr. Magdalena. Dann klingelt sie an der Wohnungstür und sagt Hallo. Manchmal bleibt es bei der Begrüßung, manchmal bleibt sie zwei Stunden. Und kann unterstützen: Das unglückliche Rentnerpaar, das eigentlich nicht aus ihrer alten Wohnung herauswollte, nun aber in Kronsrode lebt. Durch Zuhören, Ermutigen und einen Besuchsdienst. Oder der Frau aus der Ukraine, die nichts für ihre Wohnung hat. Durch Spenden aus der benachbarten Pfarrei Heilige Engel.
Sr. Magdalena denkt perspektivisch: „Hier entsteht eine Kleinstadt, früher hätte man da auch eine Kirche gebaut.“ Sie ist sich sicher, gibt es keinen Ort für Stille, für Transzendenz, für Rituale „macht das was mit einem Quartier.“ Daher ist ihr Ziel, auf längere Sicht einen Raum der Stille und einen Raum der Begegnung zu schaffen. Auch wenn es kein Kirchengebäude ist. Entsprechende Verfügungsflächen für soziale und gemeinnützige Organisation sieht ein Bebauungsplan gesetzlich vor: „So können auch spirituelle Angebote gemacht werden.“ Denn auch das schafft Gemeinwesen.
Zur Erinnerung: Ähnliches macht Sr. Magdalena auch im zweiten großen Wohnungsbauprojekt Hannovers, der Wasserstadt. Mit einer anderen evangelischen Kollegin und in diesem Fall nicht mit Straßennamen, sondern mit Eiscreme. Bis Oktober wird noch achtmal zur „Pop-up-Eisdiele“ eingeladen – für je eine Stunde im provisorischen Uferpark. Auch hier gilt: Gelegenheit, um Nachbarschaft aufzubauen. Erst Eis, dann Spiritualität.
Rüdiger Wala