Wenn die Kinder aus dem Haus sind
Die "Best-Ager" aus St. Oliver in Laatzen
Was haben das Singen im Rudel, ein Neubaugebiet mit Baukränen und die Villa Seligmann in Hannover miteinander zu tun? Alle drei Stichpunkte stehen auf der Programmliste einer neuen Gruppe in der Gemeinde St. Oliver in Laatzen – den „Best-Agern“.
Im besten Alter, Generation Gold, Silver Surfer – Reklamefachleute sind ziemlich rege im Beschreiben neuer Zielgruppen für Produkte. Bei den sogenannten „Best-Agern“ wird es da ziemlich konkret: 55 Jahre, Aussehen wie 48, sich fühlen wie 42 und ein Verhalten wie mit 39. Fertig ist die Typologie aus dem Marketingsprech.
Die Gemeinde St. Oliver in Laatzen kennt jetzt auch „Best-Ager“ und füllt diese Definition anders. „Unser Motto ist: Die Kinder sind aus dem Haus, aber für den Seniorenkreis fühlen wir uns noch zu jung“, beschreibt es Simone Volkwein, die zusammen mit ihrem Mann Jürgen auf die Idee für die Gruppe gekommen ist. So weit, so anschaulich.
Das Angebot ist offen, es besteht kein irgendwie gearteter Zwang, sich für die Mitgliedschaft in der Gruppe entscheiden zu müssen: „Es kann kommen, wer sich als Best-Ager fühlt und für den das Thema oder die Aktivität interessant ist.“ Eine Alterskontrolle findet selbstverständlich nicht statt. Wer bei den monatlichen Angeboten Zeit hat, macht mit. Oder auch mal nicht. Alles kein Problem.
„Wir suchen Dinge aus, die uns Spaß machen“
Noch eines ist wichtig, das eher untypisch für kirchliche Gruppen ist: „Wir suchen Dinge aus, die uns Spaß machen und allen guttun.“ Also keine Suche nach Aufgaben, die getan werden müssen. Sondern nach Dingen, die den Horizont erweitern, Teilnehmende ins Gespräch oder herzhaft zum Lachen bringen – oder zum Singen, Staunen und Anstoßen.
Insofern empfinden sich Simone und Jürgen Volkwein nicht als Gruppenleitende – wozu auch: „Es ist gewollt und gewünscht, dass jeder auch selbst einen Abend vorbereitet oder ein Angebot vorschlägt.“ Was im Übrigen sehr schnell gehen kann, denn schon allein beim ersten Treffen sprudelten die Ideen.
Zurzeit sind es um die 15 Personen, die regelmäßig dabei sind. Paare, aber auch Singles. „Wir werden ganz oft angesprochen und merken, dass wir bei vielen Gemeindemitgliedern einen Nerv getroffen haben“, sagt Simone Volkwein.
Was war denn nun dabei in den ersten Monaten: Zum Beispiel Klassiker, wie ein Spieleabend und ein weiterer mit dem Film „Vaya Con Dios“, der zwar spanisch klingt, aber eine Brücke zwischen Brandenburg und der italienischen Toskana schlägt – anhand dreier Brüder einer fiktiven Ordensgemeinschaft. Verbunden mit dem Film waren landestypische Speisen, wie Simone Volkwein ergänzt.
Besuch mit Polizeiwagen
Die „Best-Ager“ aus Laatzen sind viel unterwegs, wobei sich die Interessen für Religiöses, Gesellschaftliches und Kultur mischen. Zum Beispiel beim Besuch der Villa Seligmann in Hannover: Einst von 1903 bis 1906 für Siegfried Seligmann, den jüdischen Direktor der Continental AG erbaut und heute ein Zentrum für jüdische Kultur ist. Aber die Villa Seligmann ist nicht eine Kultureinrichtung, sie ist auch Spiegel der Bedrohung jüdischen Lebens heute. Beim Besuch der Best-Ager steht ein Polizeiwagen vor der Tür, der Terrorangriff der Hamas auf Israel liegt erst wenige Tage zurück. Die Begegnung mit Daniela Finkelstein, Tochter des Holocaust-Überlebenden Salomon Finkelstein und im Vorstand der Siegmund Seligmann Gesellschaft, lässt die allgegenwärtige Angst greifbar werden: um Angehörige und Freund*innen in Israel, aber auch um die Gefährdung hierzulande.
Weitere Besuchsorte der „Best-Ager“: die Oster-Ausstellung „Erlebt“ in der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinde Hannover oder auch die Deisterfreilichtbühne – „My fair Lady“. Musik wie bei diesem Musical wird nicht nur passiv genossen. So waren die „Best-Ager“ auch beim „Rudelsingen“ – ein Angebot in Hannover, bei dem regelmäßig einige hundert Mitsingende live und mit musikalischer Begleitung so ziemlich alles aus voller Kehle schmettern: Volkslieder, Schlager, Rocksongs und was aktuell im Radio gespielt wird.
Der Blick fällt aber auch in die Nachbarschaft: Wenn nur einen Katzensprung weiter Hochhäuser aus dem Boden wachsen und Baukräne die Szenerie dominieren, dann statten die Best-Ager der in diesem Fall größten Baustelle Niedersachsens einen Besuch ab. Dort, wo insgesamt 4000 Wohnungen in einem neuen Stadtteil entstehen, schauen sie gemeinsam mit Schwester Magdalena Winghofer hinter die Kulissen der Bauzäune. Die zur Congregatio Jesu gehörende Ordensfrau ist für das Bistum Hildesheim Projektreferentin für Kirche im Neubaugebiet. Beim Spaziergang geht es um Stadtplanung und Treffpunkte, um die Frage „was will Kirche eigentlich im Neubaugebiet“. Eine der Antworten von Sr. Magdalena beim abschließenden Picknick auf freier Wiese: „Wir wollen, dass ein gutes Gemeinwesen entsteht.“
Ein Anliegen, das auch die Best-Ager miteinander verbindet. Und das sich beim noch ausstehenden Besuch im bundesweit einmaligen Haus der Religionen in Hannover fortsetzen wird. Denn auch dort geht es um Gemeinwesen und Miteinander.
Rüdiger Wala