Zuhören und Glauben
In Hannover haben sich heute rund 90 Wissenschaftler, kirchliche Mitarbeiter und Interessierte aus ganz Deutschland getroffen, um sich über das Thema Prävention von sexualisierter Gewalt in der Katholischen Kirche auszutauschen.
Zu der Tagung hatten die Fachstelle Prävention von sexuellem Missbrauch und zur Stärkung des Kindes- und Jugendwohles des Bistums Hildesheim und die Katholischen Erwachsenenbildung in der Diözese Hildesheim e. V. (KEB) eingeladen. Als Referent war unter anderem Pater Klaus Mertes SJ gekommen, der 2010 Fälle von sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt an kirchlichen Einrichtungen aufdeckte und damit auch im Bistum Hildesheim eine Aufklärungs- und Aufarbeitungswelle auslöste. Er warnte davor, dass die Kirche als Institution nach einer intensiven Phase der Auseinandersetzung mit dem Thema wieder träge werden könnte. Die Systematik, mit der sich Täter Strukturen mit dem Ziel des Missbrauchs aufbauen, darf nicht unterschätzt werden. Sprechen wir von einem Täter, sprechen wir von hundert Betroffenen, sagte Pater Mertes. Wir müssen als Kirche Betroffenen zuhören und glauben, denn alles andere schützt den Täter.
Dabei sei es wichtig, dass die Kirche kein Gerichtssaal sei, in dem das Prinzip gelte: Im Zweifel für den Angeklagten. Vor Gericht scheitern Opfer sexuellen Missbrauchs oft wegen der Unschuldsvermutung, sagte Pater Mertes. Wir als Kirche müssen eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen, in der betroffene Jugendliche und Kinder, aber auch unsere Mitarbeiter sich äußern können. Denn nichts schützt so sehr vor sexuellem Missbrauch wie die Fähigkeit, darüber sprechen zu können. So wisse er von Situationen, in denen sich Kinder vor sexuellem Missbrauch schützen konnten, indem sie die Täter direkt darauf ansprachen. Prävention beginnt immer wieder bei Null, denn jedes Jahr kommen neue Kinder, Eltern und Mitarbeiter zur Kirche und ihren Schulen und Einrichtungen, ermahnte er.
Wir sind eine lernende Institution, sagte Propst Martin Tenge als Hausherr zur Begrüßung der Tagungsteilnehmer. In aller Demut kann ich sagen, dass wir bezüglich der Prävention noch nicht am Ziel sind, und ich weiß auch nicht, ob man überhaupt ans Ziel kommen kann. Er sehe als Kleriker aber im Bistum Hildesheim Fortschritte in dem Bereich. Vor fünf Jahren, als die Fälle von sexuellem Missbrauch an Schutzbefohlenen durch Priester und kirchliche Mitarbeiter auch hier bekannt wurden, ging es immer um konkrete Täter und konkrete Opfer. Jetzt aber versuchen wir, die Haltung, die Mentalität und die tiefer liegenden Strukturen unserer Kirche zu ändern auch wenn das manchmal unangenehm ist. Seiner Meinung nach müsse der generelle Umgang mit Kindern und Jugendlichen immer wertschätzend sein, egal in welcher Situation.
Seit dem Bekanntwerden von Fällen sexuellen Missbrauchs und sexueller Gewalt an Schutzbefohlenen durch Priester und kirchliche Mitarbeiter deutschlandweit bemüht sich das Bistum Hildesheim um Prävention und Aufklärung. Unter anderem wurde die Fachstelle Prävention von sexuellem Missbrauch und zur Stärkung des Kindes- und Jugendwohles gegründet. In einem aufwendigen Programm sollen bald alle ehrenamtlich- und hauptamtlichen Mitarbeiter der Kirche zum Thema Prävention von sexualisierter Gewalt im gesamten Bistum komplett geschult worden sein. Unsere Mitarbeiter müssen in sich in klaren Strukturen bewegen, in denen sie handeln können, sagte die Präventionsbeauftragte des Bistums Hildesheim, Jutta Menkhaus- Vollmer. Sie müssen eine innere Haltung entwickeln, damit die Kirche ein sicher Ort für Kinder und Jugendliche wird.
In Deutschland werden im Schnitt 1.000 Kinder am Tag sexuell missbraucht. Jedes fünfte Mädchen und jeder 12. Junge sind im Laufe ihres Lebens betroffen. Expertenschätzungen zufolge geschehen fast annähernd neunzig Prozent dieser Fälle von sexualisierter Grenzverletzung, sexualisierter Gewalt und bergriffen im häuslichen Umfeld. Nur ein Bruchteil davon passiert außerhalb der Familie und Bekanntschaft zum Beispiel in Institutionen wie Vereinen, der Kirche oder Schulen.
Marie Kleine